Hochschullehrende gegen Antisemitismus auf dem Campus
Frankfurt am Main, 02. Mai 2024
Die große Mehrheit aller Jüdinnen und Juden in Deutschland hat in den letzten Jahren Antisemitismus persönlich erlebt. Seit dem genozidalen Massaker der Terrororganisation Hamas und mit ihr verbündeter Gruppen in Israel am 7. Oktober 2023 hat sich diese Situation deutlich verschärft. Nach Angaben des Bundeskriminalamtes wurden seit dem 7. Oktober bis heute 2.249 antisemitische Straftaten verzeichnet; die antisemitische Kriminalität hat sich damit gegenüber dem Vorjahr etwa verdreifacht. Auch nach Angaben des Bundesverbands der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus (RIAS)[1] erhöhte sich im Oktober 2023 die Anzahl der antisemitischen Vorfälle pro Tag um 320% gegenüber dem Jahresdurchschnitt 2022.
Auch an den Hochschulen in Deutschland, Österreich und der Schweiz prägt ein rapide zunehmender und sich radikalisierender Antisemitismus das Klima. Viele jüdische Studierende und Hochschullehrende sind seit dem 7. Oktober 2023 persönlich von antisemitischen Anfeindungen betroffen. In vielen Hochschulen gibt es antiisraelische Demonstrationen, auf denen antisemitische Parolen skandiert werden. Veranstaltungen von jüdischen Lehrenden werden gestört und in Gastveranstaltungen werden israelische Gastdozierende niedergebrüllt. Plakate, die an das Massaker des 7. Oktober und an die Geiseln in der Gewalt der Hamas erinnern, werden beschmiert oder abgerissen. Zu ihrem Schutz verzichten viele Jüdinnen und Juden auf dem Campus – noch mehr als bereits vor dem 7. Oktober – auf sichtbare jüdische Symbole, z.B. Davidsterne, Namen in hebräischen Lettern. Sie gehen das Risiko der konkreten Bedrohung und Gewalt nicht mehr ein und vermeiden es, offen mit ihrer jüdischen Identität umzugehen, oder versuchen durch Onlineveranstaltungen, das Fernbleiben oder gar die Unterbrechung des Studiums dem feindlichen Klima auf dem Campus zu entgehen. Die reale Bedrohung, die Betroffenheit, die Angst und Unsicherheit der Jüdinnen und Juden an den Hochschulen werden vom Rest der Hochschulangehörigen in der Regel selten wahrgenommen oder gar ignoriert. Es gibt kaum für das Themenfeld Antisemitismus geschulte Anlaufstellen für jüdische Studierende und Dozierende.
Wir – eine Gruppe von jüdischen Hochschullehrenden in Deutschland, Österreich und der Schweiz – stellen uns gegen diesen zunehmenden Antisemitismus und die damit einhergehende Zunahme von Gewalt gegen Jüdinnen und Juden an Hochschulen. Die formale Ächtung des wachsenden Antisemitismus und aller damit einhergehenden negativen Entwicklungen auf dem Campus muss durch die Hochschulleitungen durchgesetzt werden – und zwar präventiv durch Aufklärung, Bildung und Schulung, und repressiv durch konsequentes Vorgehen gegen jegliche Formen von gewalttätigen Ausschreitungen durch Mittel wie Strafanzeigen, Disziplinarmaßnahmen und Ausübung des Hausrechts. Es braucht kurz-, mittel- und langfristige Maßnahmen an den Hochschulen, die Aufklärung über Falschnachrichten und antisemitische Verschwörungserzählungen anbieten. Darüber hinaus sollten Veranstaltungen über jüdisches und israelisches Leben aus jüdischen Perspektiven initiiert werden, um dem Antisemitismus – auch unter Hochschulangehörigen – kraftvoll entgegenzuwirken.
Antisemitismus – darunter auch israelbezogener Antisemitismus – darf auf dem Campus nicht unwidersprochen hingenommen werden. Der Schutz von Betroffenen ebenso wie der öffentliche Widerspruch, das Aufzeigen von Grenzüberschreitungen sowie angemessene Konsequenzen für die Täterinnen und Täter sind zwingend erforderlich. Andernfalls riskieren wir eine Normalisierung sowie einen Wachstum des Hasses und der Gewalt in unseren Bildungseinrichtungen, in denen Jüdinnen und Juden lediglich die ersten Betroffenen sind: Die Atmosphäre ist längst gekippt! Eine an demokratischen Werten orientierte und der Freiheit der Wissenschaft verpflichtete Hochschule muss diese Entwicklungen umkehren! Die Hochschulverwaltungen müssen wirksame Maßnahmen ergreifen, um antisemitische Vorfälle in jeglicher Form einzudämmen und Normalität jüdischer Zugehörigkeit und jüdischen Lebens auf dem Campus zu gewährleisten.
Dieser offene Brief wird von jüdischen Hochschullehrenden in Deutschland, Österreich und der Schweiz sowie Unterstützern getragen, insbesondere von den im Folgenden namentlich in alphabetischer Reihenfolge genannten.
[1] RIAS erfasst und dokumentiert antisemitische Vorfälle, die sowohl oberhalb als auch unterhalb der Strafbarkeitsschwelle liegen. Laut der Beratungsstelle OFEK e.V. hat sich die Inanspruchnahme der Beratung nach antisemitischen Vorfällen in den sechs Monaten nach dem 7. Oktober 2023 versiebenfacht.
Open Letter from Academics on Antisemitism on Campus in Germany, Austria, and Switzerland
Frankfurt am Main, Germany, May 2, 2024
The vast majority of Jews in Germany have personally experienced antisemitism in recent years. Since the genocidal massacre by the terrorist organization Hamas and its allied groups in Israel on October 7, 2023, this situation has significantly deteriorated. According to the Federal Criminal Police Office, 2,249 antisemitic crimes were recorded from October 7 to date, tripling the number of antisemitic crimes compared to the previous year. The Bundesverband der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus (RIAS)[1] reported that in October 2023, the number of daily antisemitic incidents increased by 320% compared to the annual average in 2022.
Antisemitism increases rapidly at universities in Germany, Austria, and Switzerland, , appearing in ever more radical guises/forms, adversely impacting the campus climate. Since October 7, 2023, an increasing number of Jewish students and Jewish faculty were the targets of antisemitic aggression. Anti-Israel demonstrations with choruses of antisemitic chants took place at numerous universities. Events led by Jewish faculty have been interrupted and Israeli guest speakers screamed down. Posters memorializing the October 7 massacre and the hostages still held by Hamas are frequently vandalized or destroyed. Even more so since October 7, many Jews on campuses forego displaying visible symbols of their Jewish identity, such as a Star of David or their names in Hebrew letters, for their own safety. They no longer do not want to face the risk of direct threats and violence. They avoid open expressions of Jewish identity to evade the hostile climate on campus, opting for courses online, staying away from campus, or even by taking temporary breaks from their academic studies. The substantial levels of threat, distress, fear, and insecurity experienced by Jews within university communities typically go unnoticed, or they are being disregarded by other campus members. Moreover, help points on campuses, which are staffed by counselors trained to deal with incidents of antisemitism hardly exist for Jews on campus.
We – a group of Jewish and non-Jewish academics in Germany, Austria, and Switzerland – stand against the increasing antisemitism and the accompanying rise in violence against Jews at universities. University administrations must ensure public condemnation of growing antisemitism and all associated negative developments on campus – preventively through awareness, education, and training, and repressively through consistent action against all forms of violent incidents and clashes with means such as criminal charges, disciplinary measures and the enforcement of campus house rules and regulations. It is imperative that universities implement a range of short, medium, and long-term educational measures to counter misinformation and antisemitic fake news and conspiracy theories. Additionally, organizing events on contemporary Jewish and Israeli life-worlds from Jewish perspectives can effectively combat antisemitism, including within the university community.
Antisemitism – including Israel-centered antisemitism – must not go unchallenged on campus. It is imperative to protect those affected by antisemitism and to publicly counter such attitudes, identify violations of conduct, and impose appropriate consequences for perpetrators. Should university administrations and communities fail to intervene, hate and violence within our educational institutions will escalate but ultimately these will become normalized. Jews are just the first victims: The atmosphere has already shifted dramatically! Universities committed to democratic values and the freedom of science must act decisively to reverse these trends! University administrations must implement effective measures to prevent antisemitic incidents in all forms and ensure that Jewish identity and life can be expressed freely and safely on campus.
This open letter is endorsed by Jewish academics in Germany, Austria, and Switzerland, along with supporters, especially those named below in alphabetical order.
[1] RIAS records and documents antisemitic incidents that occur both above and below the threshold of criminality. According to the counseling center OFEK e.V., the demand for counseling following antisemitic incidents has increased sevenfold in the six months after October 7, 2023.