Sehr geehrter Herr Vorsitzender,
sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete,
haben Sie vielen Dank für die Einladung, auch im Namen des Netzwerks Jüdischer Hochschullehrender, namentlich Prof. Dr. Julia Bernstein und Dr. Orna Freifrau von Fürstenberg, mit deren enger Absprache ich Ihnen heute zentrale Herausforderungen der Bekämpfung des derzeit virulenten Antisemitismus an Bildungs- und Forschungseinrichtungen skizziere.
Die meisten würden sich niemals als Antisemiten beschreiben. Doch Antisemitismus und Betroffene von Antisemitismus gibt es nicht ohne Antisemiten und antisemitische Einstellungen.
Die gute Nachricht ist: Antisemitismus ist ein erlerntes Phänomen. Antisemitismus ist daher auch veränderbar und reflektierbar.
Jüdische Hochschulangehörige und Studierende ziehen sich nach dem 7. Oktober zunehmend zurück, erleben Drohungen und Angriffe, auch in Bildungs- und Forschungseinrichtungen.
Die erste Anforderung lautet daher:
Die Normalität jüdischer Präsenz auf dem Campus muss gesichert werden und die Sichtbarkeit jüdischen Lebens in der Wissenschaft muss institutionell und strukturell gestärkt werden.
Der institutionelle und strukturelle Einbezug von Juden und Jüdinnen ist nötig, um nicht nur über Juden und Jüdinnen zu sprechen, sondern mit ihnen. Aktuell ist es häufig der Fall, dass sich Nicht-Juden mit anderen Nicht-Juden darüber unterhalten, was für Juden und Jüdinnen problematisch oder das Beste sei.
Wenn es um Belange jüdischen Lebens auf dem Campus geht, müssen jüdische Lehrende und Studierende ernst genommen werden. Antisemitismusbeauftragte benötigen zudem die fachliche Expertise, alle Erscheinungsweisen des Antisemitismus zu erkennen, auch die Form des israelbezogenen Antisemitismus.
Die Kompetenzen und Perspektiven jüdischer Hochschullehrender, wie beispielsweise im Netzwerk Jüdischer Hochschullehrender, und von jüdischen Studierendenverbänden, wie beispielsweise der Jüdischen Studierenden Union Deutschlands (JSUD) und der European Association of Jewish Students (EUJS) sind bei der Berufung von Antisemitismusbeauftragten und weiteren Ansprechpartner/-innen für jüdische Belange an Hochschulen systematisch einzubeziehen.
Zweitens: Es benötigt mehr belastbare Daten und Fakten zu den Gelingensbedingungen einer Bildung gegen Antisemitismus.
Antisemitismus ist eine Ideologie, die in allen Milieus auftreten kann. Antisemitismus muss daher auch spezifisch in allen politischen, kulturellen, religiösen und sozialen Milieus adressiert werden – auch in Bildungseinrichtungen.
Die Gelingensbedingungen dafür sind weitestgehend unerforscht. Studien fehlen zu den Fragen: Was wirkt bei wem und mit welcher Nachhaltigkeit und warum bzw. was wirkt bedingt oder vielleicht gar nicht? Wie sind die Erfahrungen jüdischer und nicht-jüdischer Hochschullehrender, die sich mit jüdischen Themen sowie der Rezeption des Nahostkonflikts nach dem 7. Oktober befassen?
Die aktuelle (noch dünne) Studienlage weist deutlich darauf hin, dass Bildungsinstitutionen nicht frei von Antisemitismus sind und sich gleichzeitig aber als antisemitismusfreier Ort begreifen.
In der kürzlich veröffentlichten Studie von Hinz et al. (2024) „Studentisches Meinungsklima zur Gewalteskalation in Israel und Gaza und Antisemitismus an deutschen Hochschulen“ 1 geben 77% derjenigen, die Antisemitismus an Hochschulen beobachtet haben, an, dass der Antisemitismus von Kommiliton/-innen kommt und 17% geben an, dass der Antisemitismus von Lehrenden ausgeht. Für die Situation an Schulen stehen vergleichbare Daten weitestgehend aus.
Belastbare Studien zu jüdischen Perspektiven auf Antisemitismus in den Schulen, auf dem Campus und in Forschungseinrichtungen sind nötig, um empirisch fundiert Handlungsmöglichkeiten zu zeigen, wie jüdisches Leben in Bildungs- und Forschungseinrichtungen unterstützt und geschützt, gefördert und anerkannt werden kann.
Hinzu kommt: Trotz Beschlüssen der KMK für Schulen und Hochschulen 2 ist Antisemitismus weiterhin kaum Gegenstand in der Lehramtsausbildung und in der politischen Bildung. Auch für Hochschullehrende fehlt die Sensibilisierung für Antisemitismus als Weiterbildungsqualifikation.
Drittens: Den israelbezogenen Antisemitismus seit dem 7. Oktober erkennen, benennen und kritisieren. Die derzeitig dominierende Erscheinungsweise des Antisemitismus an den Hochschulen ist der israelbezogene Antisemitismus, der auch in der Definition der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) adressiert wird. Vorträge von jüdischen und/oder israelischen Kolleg/-innen können meist nur unter zum Teil erheblichen Sicherheitsvorkehrungen stattfinden. Jüdische Studierende bemerken viel zu häufig die fehlende institutionelle Unterstützung und ziehen sich zurück, bleiben den Seminaren fern. Ein ‚Outing‘ als jüdisch oder als israelisch kann sehr gefährlich werden. Hier sind die Hochschulleitungen in besonderer Art und Weise gefordert, jüdische und/oder israelische Hochschulangehörige angemessen zu schützen.
Die zentrale Ideologie im antisemitischen Weltbild ‚Die Juden sind unser Unglück‘ findet sich heute an den Hochschulen in der Annahme: ‚Israel ist unser Unglück‘. Heute wird also das Wort ‚Jude‘ durch ‚Israel‘, ‚Israelis‘ oder ‚Zionisten‘ ersetzt. Vorgeschoben wird in aller Regel ein Recht auf sogenannte ‚Israelkritik‘.
Die Herausforderung besteht darin, den israelbezogenen Antisemitismus, der häufig hinter dem politischen Aktivismus auf dem Campus steht, zu erkennen und zu benennen. Die Rede von sogenannten propalästinensischen Protesten, wenn es in Wirklichkeit um Hamas- und Terror-Sympathisanten geht, kann das nicht. Zum einen, weil die Hamas kein Interesse an einer frei und demokratisch lebenden Zivilgesellschaft hat. Zum anderen, weil dadurch der Terror gegen Juden und Jüdinnen an deutschen Bildungseinrichtungen fortgeführt wird. Wer das ignoriert oder bewusst mitträgt, ist nicht propalästinensisch, sondern antisemitisch.
Zusammenfassend
Alle Hochschulangehörigen müssen an ihren Hochschulen eine Atmosphäre vorfinden können, in der sie sicher und frei von Angst und Diskriminierung studieren, forschen, lehren und arbeiten können. Darauf haben auch jüdische und israelische Hochschulangehörige ein Recht. Hochschulen und wissenschaftliche Einrichtungen müssen sich aktiv dafür einsetzen, für jüdische und israelische Angehörige und Gäste ihrer Einrichtung ein sicheres Umfeld herzustellen.
Prof. Dr. Julia Bernstein,
Vorsitzende des Vorstands, Netzwerk Jüdischer Hochschullehrender e.V.
Professur für Diskriminierung und Inklusion in der Einwanderungsgesellschaft Frankfurt University of Applied Sciences
Dr. Orna Freifrau von Fürstenberg
Rechtsanwältin, Vorstand, Netzwerk Jüdischer Hochschullehrender e.V.
Prof. Dr. Stefan Müller
Professur für Bildung und Sozialisation unter Bedingungen sozialer Ungleichheiten
Frankfurt University of Applied Sciences
Quellenverweise:
- Hinz, Th., Marczuk, A. & Multrus, F. (2024). Studentisches Meinungsklima zur Gewalteskalation in Israel und Gaza und Antisemitismus an deutschen Hochschulen, Working Paper Nr. 16, Universität Konstanz, https://www.bmbf.de/SharedDocs/Downloads/de/2024/20240314_studie_antisemitismus_an_hs.pdf?__blob=publicationFile&v=1 ↩︎
- Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 07.12.2023: Aktionsplan gegen Antisemitismus und Israelfeindlichkeit, https://www.kmk.org/fileadmin/veroeffentlichungen_beschluesse/2023/2023_12_07-Aktionsplan-gegen_Antisemitismus-und-Israelfeindlichkeit.pdf sowie Gemeinsame Empfehlung
des Zentralrats der Juden in Deutschland, der Bund-Länder-Kommission der Antisemitismusbeauftragten
und der Kultusministerkonferenz zum Umgang mit Antisemitismus in der Schule vom 10.6.2021, https://www.kmk.org/fileadmin/Dateien/veroeffentlichungen_beschluesse/2021/2021_06_10-Gemeinsame_Empfehlung-Antisemitismus.pdf ↩︎