Umfrage unter den Mitgliedern des Netzwerks Jüdischer Hochschullehrender in Deutschland, Österreich und der Schweiz zeigt das Ausmaß von Bedrohungen und Belästigungen nach dem 7. Oktober
Frankfurt am Main, den 19. Juli 2024
Eine kürzlich durchgeführte anonyme Umfrage unter den Mitgliedern des Netzwerks hat das Ausmaß von Bedrohungen und Belästigungen von jüdischen Hochschullehrenden an Hochschulen in Deutschland, Österreich und der Schweiz nach dem 7. Oktober 2023 offengelegt. Mit der vom Netzwerk durchgeführten Umfrage werden das Erleben des universitären Arbeitsumfeldes nach dem 7. Oktober, das Ausmaß von Gefährdungen und die Formen von Bedrohungen oder Belästigungen, denen jüdische Hochschullehrende ausgesetzt sind, dargestellt.
An der Umfrage haben sich rund die Hälfte der Netzwerkangehörigen beteiligt. Rund 40 % der Befragten geben an, seit dem 7. Oktober wegen ihrer jüdischen Identität bedroht oder belästigt worden zu sein.
Wichtige Erkenntnisse zum Bedrohungserleben:
- Online-Belästigung und Cybermobbing: 40,9 % berichten, dass sie über E-Mail oder Social Media belästigt wurden.
- Verbale Belästigung: 63.6% geben an, dass sie im akademischen Umfeld verbal angegriffen wurden.
- Physische Bedrohungen bzw. Sachbeschädigungen haben jeweils rund 14 % erlebt.
- Ausschlussversuche: Mehrere Befragte berichten von Bestrebungen, sie von universitären Veranstaltungen oder Projekten auszuschließen.
Einige der Umfrageteilnehmer:innen schildern detaillierte Berichte über Bedrohungen durch Hetze und Boykottaufrufe, verbale Anfeindungen, Vandalismus und Besetzungen, Versuche der Disqualifizierung im universitären Arbeitsumfeld sowie Projektionen von Israelhass auf Juden in Deutschland.
Die daraus ableitbare Gefährdungslage lenkt den Fokus auf Sicherheitsmaßnahmen an den Hochschulen. Rund 14 % der Befragten geben an, dass sie derzeit Personenschutz oder andere spezielle Schutzmaßnahmen in Anspruch nehmen. 13 % sind aufgrund von Anfeindungen auf online-Lehre umgestiegen. Rund 40 % fordern Sicherheitsworkshops und Schulungen. Jede/r dritte Befragte plädiert für eine erhöhte Polizeipräsenz auf dem Campus, jede/r vierte für Zugangskontrollen zu den Gebäuden. 75,9 % sind der Ansicht, von ihrer Hochschule sei kein klares Sicherheitskonzept verabschiedet und an Mitarbeiter:innen kommuniziert worden. Lediglich 7,4 % geben an, dies sei bei ihnen der Fall gewesen.
Das Netzwerk Jüdischer Hochschullehrender beobachtet die Entwicklungen an Hochschulen in Deutschland, Österreich und der Schweiz und das zunehmende Ausmaß von Bedrohungen und Belästigungen jüdischer Hochschullehrender mit großer Sorge. Die Umfrage unterstreicht die Notwendigkeit einer verstärkten Sensibilisierung für den Antisemitismus an Hochschulen und für Maßnahmen zu dessen Prävention. Diese sollten klare Richtlinien und Schulungsprogramme zur Bekämpfung aller Formen des Antisemitismus implementieren und sicherstellen, dass Betroffene Unterstützung und Schutz erhalten.
Für weitere Informationen oder Interviews wenden Sie sich bitte an:
Prof. Dr. Julia Bernstein
Prof. Roglit Ishay
Dr. Orna Freifrau von Fürstenberg
Prof. Dr. Guy Katz
Dr. Ilja Kogan
Prof. Dr. Dani Kranz
Prof. Dr. Haya Schulmann
Zusammenfassung wichtiger Erkenntnisse
Bedrohung durch Hetze und Boykottaufrufe
In diese Kategorie fallen zunächst Anfeindungen via E-Mail – sogenannte „Hassmails“ – oder in Social Media. Eine Person berichtet: „In Social Media wurde gegen mich gehetzt, ich wäre rassistisch und klassistisch und ableistisch, und es wurden andere gegen mich aufgehetzt.“ Ein Bedrohungsszenario wird an einzelnen Hochschulen zudem durch studentischen Aktivismus geschaffen, der als „propalästinensisch“ legitimiert wird. In diesem Zusammenhang stehen koordinierte Aktionen, die sich konkret gegen jüdisch-israelische Wissenschaftler:innen oder tatsächliche oder vermeintliche „(pro)zionistische Stimmen“ richten. Eine Person berichtet über die Verweigerung einer Kooperation aufgrund ihrer Forschung zu Israel und ihrer israelischen Staatsbürgerschaft. An einer Hochschule sind gegen israelische Wissenschaftler:innen und Hochschulen gerichtete Boykottaufrufe ebenso wie eine Kampagne zur Denunziation von jüdischen Hochschulangehörigen beobachtet worden. Studierende wurden mittels Flyer aufgefordert, Seminare zu melden, in denen „zionistische Propaganda“ verbreitet werde.
Eine israelische Dozentin berichtet von einem Versuch, sie von einer Veranstaltung auszuschließen: „Es wurde versucht, mich von (der Veranstaltung), bei der ich ursprünglich auftreten sollte, auszuladen.“ Die Verantwortlichen haben damit argumentiert, ihre „Herkunft“ gefährde die Sicherheit bei der Veranstaltung.
In einem weiteren Fall wurden Name und Foto einer/-s Dozierenden in Umlauf gebracht, auf denen diese/-r als vermeintliche/-r Zionisten/-in markiert worden ist. Daraufhin ist die Sicherheit des/r Betroffenen an der Hochschule nicht mehr gewährleistet gewesen, sodass er/sie nur noch mit Personenschutz und online außerhalb der Hochschule lehren konnte.
Verbale Anfeindungen
Einige jüdische Dozierende berichten von Ausschlüssen, Angriffen und von dem Hinterfragen ihrer Erfahrungen oder ihrer (Problem)Wahrnehmung. Eine der befragten Personen gibt an: „Ich wurde bei einem Gastvortrag an der Uni (Name) verbal angegriffen und diffamiert.“ Eine weitere befragte Person führt aus: „Nur zwei Beispiele: 1) Ein Mann auf einer Busstation begann, mich anzuschreien und antisemitische Beleidigungen auszusprechen. 2) Bei einer öffentlichen Veranstaltung wurde ich verbal attackiert.“ Eine andere Person berichtet davon, mit einer an die nationalsozialistische Vernichtungspraxis angelehnten Vernichtungsphantasie konfrontiert worden zu sein. Ihr sei gesagt worden, „dass man mich vor 80 Jahren vergast hätte“. In einem weiteren Fall wurde über die folgende Szene berichtet. Während eines Treffens mit Kolleg:innen zu einem Abendessen nach einem gemeinsamen Workshop flackerte eine Kerze. Die befragte Person löschte die Kerze. Etwas Rauch stieg auf. Sie kürzte den Docht und zündete die Kerze wieder an. Ein Kollege bemerkte dazu: „Ihr kennt Euch ja mit dem Rauch aus.“
Vandalismus und Besetzungen von Hochschulen
Unter dieser Kategorie fallen Sachbeschädigungen und Besetzungsaktionen von studentischen Aktivist:innen, mit denen in die Hochschulöffentlichkeit hineingewirkt wird. Eine Lehrende beschreibt, die Räume, in denen sie lehren müsse, seien „mehrmals mit Slogans besprüht und mit Transparenten behängt worden“. Eine andere Lehrende schildert die Besetzung ihres Instituts durch propalästinensische Aktivist:innen wie folgt: „Als ich den Notausgang frei gemacht habe, wurde ich verbal und physisch angegriffen.“
In diese Kategorie fällt auch das Abreißen von Postern mit Geisel-Portraits bzw. das Auskratzen der Gesichter der darauf abgebildeten Geiseln auf dem Gelände von Hochschulen. In einem Fall sind neben entfernten Geisel-Portraits Poster aufgehängt worden, auf denen palästinensische Zivilist:innen als „ermordet“ ausgewiesen wurden und mittels QR-Code auf die Homepage von Al-Jazeera verlinkt worden ist.
Disqualifizierungen im universitären Arbeitsumfeld
Einige Befragte schildern, dass sie in der Fremdwahrnehmung auf ihr Jüdischsein reduziert werden, das heißt, ihnen disziplin- und professionsspezifische Kompetenzen oder Expertisen, aber auch ihr individuell-subjektives Erleben abgesprochen werden. Das beruht auf der Prämisse und folgt der Zuschreibung, sie seien nicht objektiv, sondern voreingenommen, oder sie würden qua Identität eine einseitige politische Haltung einnehmen und sich für einen demokratischen Diskurs disqualifizieren. Ihnen wird unter anderem vorgeworfen, aufgrund ihres Jüdischseins keine neutrale, sondern automatisch eine „pro-israelische“ oder „zionistische“ Position einzunehmen.
Eine Person erwähnt, wie ihr als Jüdin in einem Workshop von Studierenden die Fähigkeit abgesprochen wurde, „zum Nahostkonflikt aus wissenschaftlicher Perspektive Stellung zu beziehen.“ Sie als Jüdin könne die Situation nur einseitig wahrnehmen und sei daher nicht auf dem Laufenden. Studierende erklärten ihr, dass „die Hamas eine Befreiungsbewegung“ und ‚from the river to the sea‘ ein freiheitsliebender Slogan“ sei. Eine Dozierende berichtet, dass die Lehre im Bereich Judentum seit dem 7.10. anders verlaufe: „Mehrere Studierende sind weggeblieben, oder sie haben das Seminar formal abgesessen, man hat wie gegen die Wand gesprochen“. Eine andere Lehrende spricht an, dass sich verändert habe, wie Studierende einen (schon seit vielen Semestern stattfindenden) Vortrag eines Shoahüberlebenden wahrnehmen. Seiner Lebensgeschichte haben sich Studierende aufmerksam und ehrfürchtig angenommen, während auf die Gegenwart bezogene, israelsolidarische Einlassungen ignoriert oder missmutig hingenommen worden seien. Eine befragte Person schreibt, dass Shoahüberlebende und ihre Geschichten im Forschungs- und Lehrbereich historisiert und instrumentalisiert werden. Allgemeine Begriffe wie „Genozid“ und „Rassismus“ überlagern das Spezifische der Shoah und des heutigen Antisemitismus. In diesem Zusammenhang ist zu beobachten, „dass Wissenschaftler:innen sich mit den toten Jüdinnen und Juden beschäftigen, mit den lebenden wollen sie sich nicht auseinandersetzen; denn dann müssten sie ja im Hinblick auf Israel eindeutig sein.“
In einem Fall wird geschildert, dass die Person in einer auf ihre jüdische Identität bezogenen stigmatisierenden Wahrnehmung als „Clan-Mitglied“ sowohl medial als auch von Seminarteilnehmenden abgewertet wird. In einem anderen Fall habe eine Kollegin Israel als ‚judäo-faschistisch‘ bezeichnet, und sich für die Subsumierung von Antisemitismus unter Rassismus in einer Arbeitsgruppe für intersektionale Rassismus- und Antisemitismuskritik ausgesprochen. Ihre Verunglimpfung von Israel ist unwidersprochen geblieben. Ein/e Befragte/r schildert, wie seine/ihre Bemühungen, antisemitische Äußerungen zu problematisieren, im Kollegium abgewehrt werden. Entweder werde nachgefragt, ob er/sie wirklich denke, dass die in Frage stehende Äußerung antisemitisch sei, oder es wird in Frage gestellt, ob sie/er überhaupt richtig gehört oder sich die Äußerungen nicht nur eingebildet habe: „Meine nichtjüdischen Kolleg:innen haben alles getan, mich zu gaslighten und mir zu sagen, dass ich nicht wüsste, wovon ich spräche.“ Eine befragte Person führt ihr Empfinden aus: „Gerade das Schweigen von Kolleg:innen, mit denen langjährige scheinbar freundschaftliche Beziehungen bestanden und früher zahlreiche offene Gespräche über die Beziehungen zu Juden und Judentum geführt wurden, nehme ich als Verrat wahr“. Eine weitere Person berichtet darüber, dass Lehrveranstaltungen, die ihrem Gegenstand nach auf Israel bezogen sind, bürokratisch verhindert werden. Eine befragte Person berichtet, es werden zwar Veranstaltungen mit jüdischen Personen organisiert, man lade aber eine jüdische Person ein, die für ihre antizionistischen Ansichten bekannt sei. Eine zionistische Position als Antwort gebe es nicht. Es wirkt aus ihrer Perspektive als eine Art Alibi dafür, dass die Hochschule sich mit Antisemitismus beschäftigen würde. Der auf Israel bezogene Antisemitismus wird nicht thematisiert. Eine Befragte stellt dar, wie ihr aus dem Kollegium Motive zugeschrieben worden sind, die der antisemitischen Feindbildkonstruktionen zuzuordnen sind. Sie sei „machtbesessen“, würde „Strippen ziehen“, und „mächtige Leute instruieren“. Sie schildert darüber hinaus ihre Wahrnehmung von Sitzungen, die einem Tribunal glichen, sowie davon, dass ihr „Redeverbote in Dienstbesprechungen“ erteilt und ihre Aussagen nicht protokolliert werden.
Projektionen von Israelhass auf Juden in Deutschland
In einigen Fällen werden jüdische oder israelische Hochschullehrende als direkte Repräsentant:innen der israelischer Regierung oder des israelischen Staates bzw. als Verantwortliche für die Ereignisse in Israel oder Gaza wahrgenommen. Auf dieser Grundlage werden sie zur Projektionsfläche von Israelhass gemacht. Das zeigt sich bei den Beispielen zur Hetze und den Boykottaufrufen, aber auch in Alltagsszenarien im Arbeitsumfeld. Eine Person gibt an: „Ich erhielt Beleidigungen und Hamas-Propaganda als Vorwurf für angebliche (israelische Kriegs-)Verbrechen.“ Eine/r Befragte/r schildert ein Szenario, bei dem ein Telefonat und der Hinweis auf die jüdische Identität zum Anlass genommen wurden, ihn/sie mit einem Völkermordvorwurf zu konfrontieren: „Das absurdeste Beispiel war ein Kollege, der, als ich an einem Freitag ‚Shabbat Shalom‘ am Telefon gesagt habe, meinte: ‚Shalom ist Hebräisch, und Hebräisch ist Israel, und Israel ist Genozid‘.“ Ein/e andere/r Befragte/r verweist darauf, dass er/sie als Volksverhetzer/in diffamiert wird, nachdem er/sie in einer wissenschaftlichen Publikation das Genozidnarrativ kritisiert hatte. In einem weiteren Fall wird deutlich, dass eine Verkettung von Fragen an eine jüdische Kolleg:in dazu führt, diese mit Anschuldigungen zu konfrontieren und sie damit in einen Rechtfertigungsmodus zu versetzen. Sie wurde gefragt, ob sie anerkenne, dass Israel einen Genozid begehe. Nachdem die befragte Person diese Anschuldigung verneint hatte, sei sie mit weiteren Fragen angegriffen worden, die darauf abzielten, ihr eine Schuld zuzuschreiben. Sie sei etwa gefragt worden, warum sie nicht an „Demos für den Frieden” teilnehmen würde. Nachdem die befragte Person erwidert hatte, dort werde „Tod den Juden” skandiert, folgten weitere „kritische Nachfragen“, etwa „warum kommen da andauernd Juden aus allen möglichen Ländern und nehmen den Palästinensern ihr Land Weg?” Die befragte Person habe versucht, etwas von der Entstehung und Geschichte Israels zu erklären. Sie schildert ihr Unbehagen darüber, dass sie zur Rechenschaft gezogen worden sei. Einige Tage danach, sei ihr von der Fragestellerin via E-Mail mitgeteilt worden, dass diese jeglichen Kontakt zu ihr abbreche.
Umgangsweisen
Die Umfrage gibt einen ersten Einblick in unterschiedliche Reaktionen und Umgangsstrategien mit den beunruhigenden Erlebnissen. Auf die Frage, wie sie mit diesen Bedrohungen umgegangen sind, geben einige der Befragten an, dass sie die Vorfälle intern gemeldet haben, und dabei keine öffentliche Debatte darüber anstoßen oder eine Skandalisierung erreichen wollten. Andere haben das Problem direkt angesprochen oder mit rechtlichen Schritten gedroht, um eine Veränderung herbeizuführen. Beispielsweise sagte ein/e Befragte/r: „Ich habe mit einer Anzeige gedroht, und sie hatten vermutet, dass ich nicht nachgeben würde. Das hat die Situation etwas entschärft.“
Es sind diverse Handlungsstrategien erwähnt worden, um einen Umgang mit antisemitischen Narrativen und Argumentationsmustern in Lehrsettings zu finden. Diese bestehen u.a. darin, Provokationen weitgehend zu ignorieren oder argumentativ dagegenzuhalten. Einen solchen Fall beschreibt ein/e Befragte/r, der/die antisemitische Narrative und Argumentationsmuster auf die Bedingungen einer Wissensproduktion zurückbezieht und deshalb nach den Quellen dafür fragt. Eine fehlende Data Literacy oder Medienkompetenz exemplifiziert er/sie episodisch mit der Antwort eines/r Studenten/in auf die Frage nach den Informationsquellen: „Die Antwort war: Nicht aus den öffentlich-rechtlichen Medien, weil die auch nicht objektiv seien. Social Media sei da verlässlicher.“ In gravierenden Fällen ist davon berichtet worden, Teilnehmer:innen, die sich wiederholt antisemitisch geäußert haben, vom Seminar ausgeschlossen zu haben.
Auf der Ebene hochschulpolitischen Handelns ist von Kontaktersuchen und Korrespondenzen mit Rektoraten berichtet worden. Antisemitische Vorfälle sind an das Präsidium oder das Dekanat gemeldet worden. Es ist zudem das Bestreben, im Austausch mit dem Vorgesetzten zu bleiben oder Unterstützung im Kollegium zu suchen, beschrieben worden. Teils sind antisemitische Vorfälle Meldestellen (z.B. RIAS) zugetragen oder bei der Polizei angezeigt worden. Manche Befragten dokumentieren antisemitische Vorfälle, um sich für zukünftige Entwicklungen oder Schritte zu wappnen. Jemand berichtet, dass er/sie sich „mental auf die Möglichkeit eines Angriffs vorbereitet“. Deshalb habe er/sie der Institutsleitung und Studierenden im Voraus einen Notplan zugesendet.
In diesem Zusammenhang werden auch eine fehlende Solidarität des Kollegiums sowie die Beobachtung registriert, dass antisemitische Gewalt „die meisten sprachlos hinterlässt.“
Psychologische Wirkung: Belastungen und Verletzungen
Aus den Schilderungen geht hervor, dass die psychologische Wirkung der Antisemitismuserfahrungen auf verschiedene Art und Weise sichtbar wird. Einige Befragte zeigen sich verunsichert. Sie äußern, Angst oder Misstrauen zu haben, oder eine Resignation, wie sie aus der Schlussfolgerung eines/r Befragten folgt, sich „so weit wie möglich aus der Lehre zurückgezogen“ zu haben.
Es werden auch konkrete psychische Belastungen erwähnt, etwa Schlafprobleme oder Gedanken und Phantasien über weitere Eskalationsszenarien sowie über Befürchtungen, „dass das Schlimmste noch vor uns liegt.“
Als Resultat eines Erlebens fehlender Unterstützung oder Solidarität wird von einigen Befragten Einsamkeit benannt. Eine Befragte offenbart: „Dass wir an der Hochschule ein verdecktes, aber für mich als (Jüdin) deutlich spürbares Antisemitismusproblem an vielen Stellen haben, das von Kolleg*innen negiert wird, empfinde ich als sehr belastend. Ich fühle mich komplett allein gelassen. Ich bin ständig in Sorge, dass Antisemitismus offen, nicht nur verbal ausbrechen kann.“ Es wird deutlich, dass der Arbeitsalltag bei einigen erschwert wird. In einem Fall zeigt sich ein Dilemma zwischen der Erwartung eines aus der Problematisierung von Antisemitismus resultierenden Konflikts im Kollegium und dem eigenen Schamempfinden, deshalb auf diese Problematisierung zu verzichten. Es werden auch Weigerungen deutlich, empfundene Grenzüberschreitungen zu tolerieren, wie es für manche vor dem 7. Oktober kein Problem dargestellt hat. In einem Fall wird von einem „Kurswechsel“ gesprochen, „also vom Versuch, dialogbereit zu sein, zu einer Position, wo ich nicht mehr bereit bin, die Meinung von jemandem, der nichts anderes tun will, als mich zu verletzen, als eine ebenbürtige, diskutable Meinung anzusehen.“
In einigen Fällen wird über die Enttäuschung und Entfremdung berichtet, die aus dem institutionellen Umgang mit der Problemdynamik resultiert. Es werden ein Vermeidungshandeln sowie ein Mangel an wirksamen Strategien, das Ausbleiben von (adäquaten) Reaktionen der Hochschule oder uneindeutige Positionierungen von Verantwortungsträger:innen moniert. Ein/e Befragte/r zeichnet nach, wie die Hochschulleitung nach einem antisemitischen Vorfall reagiert habe: „Das Rektorat tut nichts. Hat mich gefragt, ob man nicht einen Schlussstrich ziehen könne, es fühlen sich ja beide Seiten beleidigt.“ Auch in einem anderen Fall wird ein Nichtstun kritisiert: „Institutsvorstand, Uni-Spitze informiert – totales Schweigen, keine Reaktion”. Ein/e Befragte/r berichtet nicht bloß von ausbleibender Unterstützung, sondern davon, wie antisemitische Positionen gestärkt werden: „Das Dekanat schützt einseitig nur die Aggressoren.”
Insbesondere im Zusammenhang mit dem Erleben von disziplin- oder professionsspezifischen oder persönlichen Disqualifizierungen als eine Form des Second Guessing gehen pyschologische Belastungen einher. Aus dem institutionellen oder persönlichen Hinterfragen der Antisemitismuserfahrungen folgen nicht selten ein Schutzbedürfnis und ein daran gekoppelter Rückzug.
Maßnahmen zur Verbesserung der Situation
Die Umfrage verdeutlicht den dringenden Handlungsbedarf zur Verbesserung der Sicherheitsvorkehrungen. Die Entwicklung klarer Richtlinien zum Umgang mit den Gefährdungslagen jüdischer Hochschullehrender, die transparente Kommunikation an Betroffene sowie eine Sensibilisierung für und Aufklärung über die Problemdynamiken sind zentrale Bausteine dafür, Antisemitismus wirksam entgegenzutreten und Jüdinnen und Juden eine gleichberechtigte Teilhabe an Hochschulen zu ermöglichen.
Die Umfrage unterstreicht zudem Bedarfe für langfristige Maßnahmen und Sofortmaßnahmen. Langfristig sollte eine Antisemitismusprävention an Hochschulen verankert werden. Das betrachten wir als Teil der Förderung einer offenen und inklusiven Hochschulkultur, in der Vielfalt und Respekt im Mittelpunkt stehen. Die Ergebnisse dieser Umfrage sind ein Weckruf für Bildungseinrichtungen und die Gesellschaft insgesamt, wachsam zu bleiben und entschieden gegen jede Form von Diskriminierung vorzugehen. Nur durch gemeinsames Handeln kann ein sicheres und respektvolles Umfeld für alle geschaffen werden.
Als Sofortmaßnahmen braucht es einerseits Schulungsprogramme zur Bekämpfung von Antisemitismus, andererseits Unterstützungsstellen und -angebote für Betroffene. Befragte sprechen sich für verbindliche Weiterbildungen für die Mitarbeiter:innen zur Geschichte und aktuellen Relevanz des Antisemitismus sowie für geschulte und vertrauenswürdige Anlaufstellen aus. Ebenso wird die Schaffung der Position eines/r Antisemitismusbeauftragten bzw. die Sensibilisierung bestehender Antidiskriminierungsstellen für die Spezifika des Antisemitismus als Notwendigkeit erwähnt. Es bedarf weiterhin der Schaffung von Stellen, die die jüdische und israelische Gegenwart und Antisemitismusfragen forschungsbasiert lehren, so dass Wissenslücken geschlossen und Juden auf dem Campus, in den Hochschulen sowie in der Gesellschaft als normaler Bestandteil begriffen werden.
Presseberichte auf Grundlage der Ergebnisse der Umfrage
“Beschimpft, belästigt, bedroht: Jüdische Lehrende beklagen Antisemitismus an Unis”
Tagesspiegel, 20.07.2024
https://www.tagesspiegel.de/politik/beschimpft-belastigt-bedroht-judische-lehrende-beklagen-antisemitismus-an-unis-12048254.html
“Mehrere jüdische Hochschullehrende stehen unter Personenschutz“
Zeit, 20.07.2024
https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2024-07/juden-hochschullehrende-personenschutz-antisemitismus
“Umfrage zeigt Bedrohung jüdischer Hochschullehrer”
Jüdische Allgemeine, 21.07.2024
https://www.juedische-allgemeine.de/allgemein/manche-brauchen-personenschutz-umfrage-zeigt-bedrohung-juedischer-hochschullehrer/