
Antisemitismus FAQ
Welche Rolle spielt die IHRA-Arbeitsdefinition von Antisemitismus im gesellschaftlichen Diskurs und in Bildungseinrichtungen?
Die IHRA-Arbeitsdefinition dient als wertvolle Orientierungshilfe zur Erkennung von Antisemitismus. Sie betont die Notwendigkeit, den „Gesamtkontext“ zu berücksichtigen. Durch diese Definition wird verdeutlicht, wo die Grenze zwischen legitimer Kritik an der israelischen Regierung und antisemitischen Äußerungen verläuft. Oftmals ist diese Unterscheidung im Alltag unklar. 2016 wurde von der „Internationalen Allianz zum Holocaustgedenken“ (IHRA) eine international anerkannte Arbeitsdefinition von Antisemitismus verabschiedet, die nützliche Anhaltspunkte für die Klassifizierung solcher Fälle liefert. Institutionen wie Vereine, Universitäten, Regierungsstellen und Strafverfolgungsbehörden können diese Definition in ihrer Arbeit einsetzen. So hat beispielsweise die Hochschulrektorenkonferenz (HRK) sie am 19. November 2019 übernommen, und auch die Universität der Künste Berlin nutzt sie.
Der genaue Wortlaut der Definition lautet: „Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Jüdinnen und Juden, die sich als Hass gegenüber Jüdinnen und Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort oder Tat gegen jüdische oder nichtjüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen.“
https://holocaustremembrance.com/resources/arbeitsdefinition-antisemitismus
Um die IHRA bei ihrer Arbeit zu unterstützen, können folgende Beispiele als Veranschaulichung dienen: Antisemitismus kann sich auch gegen den Staat Israel richten, wobei Israel als Teil eines jüdischen Kollektivs betrachtet wird. Jedoch sollte Kritik an Israel, die mit der an anderen Nationen vergleichbar ist, nicht als antisemitisch eingestuft werden. Häufig äußert sich Antisemitismus in der Behauptung, dass Juden eine Verschwörung gegen die Menschheit planen und für verschiedene gesellschaftliche Probleme verantwortlich sind. Er zeigt sich in Sprache, Schrift und Bildern und verwendet schädliche Stereotype sowie unterstellt negative Eigenschaften.
In der öffentlichen Wahrnehmung, in den Medien, Schulen, am Arbeitsplatz und im religiösen Umfeld können folgende Verhaltensweisen als antisemitisch betrachtet werden, wobei dies nicht abschließend ist:
Aufrufe zur Gewalt gegen Jüdinnen und Juden im Namen extremistischer Ideologien oder Religionen sowie die Unterstützung oder Rechtfertigung solcher Taten.
Entmenschlichende oder stereotype Anschuldigungen gegen Jüdinnen und Juden oder deren angebliche Macht, insbesondere die Mythen einer jüdischen Weltverschwörung oder der Kontrolle über Medien, Wirtschaft und Regierung.
Die kollektive Verantwortung von Jüdinnen und Juden für das Verhalten einzelner Personen oder Gruppen.
Leugnung der Fakten oder der Absicht hinter dem Holocaust.
- Der Vorwurf, dass Jüdinnen und Juden eine stärkere Loyalität zu Israel als zu ihren Heimatländern haben.
- Das Aberkennen des Rechts der Juden auf Selbstbestimmung, beispielsweise durch die Behauptung, die Existenz Israels sei rassistisch.
- Doppelte Standards, bei denen von Israel Verhalten gefordert wird, das von anderen demokratischen Staaten nicht erwartet wird.
- Verwendung von Symbolen, die mit historischem Antisemitismus verbunden sind, um Israel oder Israelis zu kritisieren.
- Vergleiche zwischen der israelischen Politik und der Politik der Nationalsozialisten.
- Kollektive Schuldzuweisungen an Jüdinnen und Juden für Handlungen des Staates Israel.
- Vorwürfe, dass Jüdinnen und Juden den Holocaust übertreiben oder erfinden.
Antisemitische Handlungen sind Straftaten, wenn sie gesetzlich als solche definiert sind, beispielsweise die Holocaustleugnung in bestimmten Ländern. Diese Taten sind antisemitisch, wenn die Ziele aufgrund ihrer jüdischen Identität ausgewählt werden, sei es Personen oder Objekte wie Schulen, Gebetsstätten und Friedhöfe.
Straftaten sind antisemitisch, wenn die Angriffsziele, seien es Personen oder Sachen – wie Gebäude, Schulen, Gebetsräume und Friedhöfe – deshalb ausgewählt werden, weil sie jüdisch sind, als solche wahrgenommen oder mit Jüdinnen und Juden in Verbindung gebracht werden.
Antisemitische Diskriminierung besteht darin, dass Jüdinne und Juden Chancen oder Leistungen verwehrt werden, die anderen Menschen zur Verfügung stehen. Solche Diskriminierung ist in vielen Ländern illegal.
Ein „Handbuch zur praktischen Anwendung der IHRA-Arbeitsdefinition von Antisemitismus“ (2021), verfasst von RIAS, der IHRA und der EU-Kommission, bietet weitere Informationen, insbesondere im Kapitel 3.3 zu Bildungseinrichtungen:
https://op.europa.eu/de/publication-detail/-/publication/d3006107-519b-11eb-b59f-01aa75ed71a1
Die Antisemitismusforscher:innen Marc Seul et al. (2024) heben in ihrem Artikel „Probleme, Perspektiven und Aufgaben antisemitismuskritischer Forschung im Angesicht des 7. Oktober“ hervor:
„Bei aller Notwendigkeit praxisbezogener Definitionen wie der IHRA-Arbeitsdefinition muss [die Antisemitismusforschung] dafür sensibilisieren, dass Definitionen im Antisemitismus phänomenbedingt an ihre Grenzen stoßen: ‚Weil sie kategorisch zwischen berechtigter und unberechtigter Kritik, zwischen Fakten und Fiktion unterscheiden, verfehlen sie die Verquickung beider Pole im antisemitischen Ressentiment, das sich nur allzu gern als legitime (aber angeblich tabuisierte) Meinungsäußerung ausgibt‘ (Lenhard 2020: 27). Ein bloßes Auswendiglernen der offensichtlich antisemitischen, ‚verbotenen‘ Symboliken, Chiffren, etc. käme dem gleich, was Adorno als „Halbbildung“ kritisierte: die der Erfahrung nicht mehr offene, gedankenlose Anwendung der von gesellschaftlichen Autoritäten vorgegebenen Kategorien und Maßstäben – nicht ‚die Vorstufe der Bildung, sondern ihr Todfeind‘ (Adorno 1996 [1959]: 111). Halbbildung ist ‚fixiert an die Vorstellungen, welche sie an die Sache heranbringt‘ (ebd.: 118), und kann Äußerungen daher nur noch auf die Übereinstimmung mit einer vorgegebenen Checkliste an ‚Verbotenem‘ abklopfen. Diese Gefahr besteht durchaus, wenn Instrumente der Approximation […] nicht zu ihrem eigentlichen Zweck, der ersten Annäherung an die Frage, ob eine Äußerung/Handlung antisemitisch sein könnte, verwendet werden, sondern stattdessen verabsolutiert und gleichsam gedankenlos angewandt werden – ohne den etwa in der IHRA-Arbeitsdefinition zurecht platzierten Hinweis ernst zu nehmen, dass Äußerungen stets „unter Berücksichtigung des Gesamtkontexts“ (IHRA o. J.) zu bewerten sind. Antisemitismus als Phänomen bewegt sich beständig „zwischen Kontinuität und Adaptivität“ (Schmidt et al. 2022), findet also stets neue Möglichkeiten der Kommunikation antisemitischer Motive und passt sich gesellschaftlichen Wertevorstellungen, Diskursen und den Bedingungen der jeweiligen Kommunikationsmedien an. Eine Liste aller antisemitischen Slogans, Chiffren, Codes, etc. kann dies nur verzögert nachvollziehen und abbilden. Daher ist es zentral, in Formaten des Wissenstransfers nicht (nur) auf ‚Antisemitismus-Kataloge‘ zu setzen, die so langwierig auszuarbeiten wie schnell wieder ‚outdated‘ wären. Statt also zu suggerieren, dass nur bestimmte Slogans, Chiffren, Argumentationsmuster oder Symbole zu vermeiden sind, die dann bequem auswendig gelernt werden – und im schlimmsten Fall bewusst umgangen werden – können, müsste es antisemitismuskritischer Bildung vielmehr darum bestellt sein, dass in den Formaten des Wissenstransfers die „zentrale Kommunikationsform“ (Hartmann 2021: 240) des Antisemitismus nach dem Holocaust bewusst gemacht wird: die „kalkulierte Ambivalenz“ (Wodak 2020). Zentrale Aufgabe des antisemitismuskritischen Wissenstransfers wäre es daher, diese Ambivalenzen und Uneindeutigkeiten nicht der Kritik tendenziell zu entziehen, sondern sie vielmehr ebenjener zugänglich zu machen“ (S. 23-24)
Welche Antisemitismusformen existieren?
Religiös motivierte Judenfeindschaft (Antijudaismus)
Historisch gesehen war Judenfeindschaft in der Vormoderne oft religiös bedingt. Diese Form wird als Antijudaismus bezeichnet und ist vor allem im Mittelalter verbreitet. Die negativen Stereotypen über Juden, die aus der christlichen Lehre hervorgingen, durchdrangen die europäische Gesellschaft und prägen auch heute noch den Diskurs. Beispiele hierfür sind der christliche Vorwurf, Juden seien für den Tod Jesu verantwortlich, oder islamische Ansichten, die Juden der Koranverfälschung beschuldigen. Wenn diese religiösen Feindbilder mit modernen Antisemitismusformen kombiniert werden, sprechen wir von einem christlichen oder islamischen Antisemitismus.
Moderner Antisemitismus
Dieser entstand während der Aufklärung, als die Idee der rechtlichen Gleichheit aller Menschen aufkam. Juden begannen, sich aus ihrer Randposition in die bürgerliche Gesellschaft zu integrieren, was zu neuen nationalistischen und rassistischen Rechtfertigungen für Judenhass führte. Diese neuen Sichtweisen ergänzten die bestehenden religiösen und wirtschaftlichen Vorurteile. Im späten 19. Jahrhundert formierten sich politische Parteien, die Antisemitismus in ihre Programme aufnahmen. Juden wurden für gesellschaftliche Probleme wie wirtschaftliche Krisen oder Kriege verantwortlich gemacht. Oft werden sie in Verbindung mit Verschwörungstheorien als mächtig wahrgenommen, was eine vereinfachte Weltanschauung fördert, bei der Juden als Sündenböcke fungieren.
Verschwörungsideologischer Antisemitismus
Ein extremes Beispiel hierfür ist der nationalsozialistische Antisemitismus, der rassistische und völkische Ideologien propagierte. Juden wurden als „Gegenrasse“ betrachtet, deren Vernichtung für das Wohl aller anderen Völker als notwendig erachtet wurde. Diese Überzeugungen führten zur systematischen Verfolgung und schließlich zur Ermordung von sechs Millionen Juden im Holocaust. Auch vor der Gründung Israels war der Antizionismus ein zentrales Element der nationalsozialistischen Ideologie, die den Zionismus als Teil einer angeblichen jüdischen Weltverschwörung sah.
Antisemitismus als Erinnerungs- und Schuldabwehr (Post-Schoa-Antisemitismus)
Nach den nationalsozialistischen Verbrechen war offener Antisemitismus lange Zeit gesellschaftlich geächtet und wurde oft strafrechtlich verfolgt. Dennoch blieb er im privaten Raum bestehen. Der Begriff „Kommunikationslatenz“ beschreibt, wie antisemitische Einstellungen in subtileren Formen geäußert werden, etwa durch Codes oder Anspielungen. Diese Form der Antisemitismusabwehr zeigt sich häufig in der Relativierung des Holocausts und in der Vorstellung, Juden würden von der Erinnerung an die Vergangenheit profitieren.
Antisemitisches Othering (Verhältnis Rassismus/ Antisemitismus)
Antisemitismus wird oft als eine spezielle Form des Rassismus angesehen. Diese Einordnung kann jedoch die spezifischen historischen und sozialen Kontexte des Antisemitismus übersehen. Während es Überschneidungen gibt, wie das Kategorisieren von Gruppen als „anders“, unterscheidet sich Antisemitismus durch die besondere Zuschreibung einer angeblichen globalen Macht an Juden. Antisemitisches Othering kann sich beispielsweise in Beleidigungen oder der negativen Kennzeichnung von Juden manifestieren.
Israelbezogener Antisemitismus
Diese Form richtet sich direkt gegen den Staat Israel, wobei traditionelle antisemitische Stereotypen auf Israel projiziert werden. Oft werden Juden kollektiv für die Handlungen der israelischen Regierung verantwortlich gemacht. In der Debatte um den Antizionismus wird häufig Antisemitismus sichtbar, da die Kritik an Israel oft von antisemitischen Vorurteilen begleitet wird.
In der Realität überschneiden sich diese unterschiedlichen Erscheinungsformen des Antisemitismus, und die genannten Kategorien sind nicht abschließend.
Wie unterscheide ich zwischen legitimer Kritik und Antisemitismus?
Eine hilfreiche Ressource dazu ist eine pädagogische Handreichung der Amadeu-Antonio-Stiftung (AAS, 2018). Diese Stiftung bietet in einem kurzen Faltblatt eine übersichtliche Darstellung des Themas. Thomas Haury und Klaus Holz (2023) geben eine Einführung in die Merkmale israelbezogenen Antisemitismus. Darüber hinaus ist auch die Übersicht von Lars Rensmann (2021) empfehlenswert.
Im August 2024 wurde das Dossier der Bundeszentrale für politische Bildung zum Thema Antisemitismus aktualisiert. Für einen fundierten Einstieg ist auch ein Interview mit Samuel Salzborn, dem Ansprechpartner des Landes Berlin für Antisemitismus, in den Arolsen Archives (2021) von Interesse.